GRÜNDUNGSERKLÄRUNG 
[Unterschriften im Anschluss an die Erklärung]

"Weil man Täter nicht mit Opfern gleichsetzen kann, reichen allgemeine Forderungen wie „Stoppt den Krieg in der Ukraine“ oder „Frieden schaffen ohne Waffen“ (...) nicht aus."

Der russische Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat die Weltgeschichte dramatischer verändert als jedes andere Ereignis seit dem Ende des Kalten Krieges 1989/90. Das Wort von der „Zeitenwende“, das Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Bundestagsrede vom 27. Februar dafür verwendet hat, trifft das Ausmaß dieser Veränderungen ziemlich genau. 

 

Der von niemandem provozierte verbrecherische Angriffskrieg Russlands ist nicht nur ein äußerst schwerwiegender Bruch mit den tragenden Grundprinzipien des Völkerrechts. Erstmals in der europäischen Geschichte nach 1945 versucht ein europäischer Staat, die staatliche Integrität eines anderen Staates mit den Mitteln militärischer Gewalt zu vernichten. Das erinnert an die Geschichte imperialer Eroberungskriege des 18.und 19. Jahrhunderts. Seit Hitlers Überfall auf Polen im September 1939 hat es etwas Vergleichbares in Europa nicht mehr gegeben. 

 

Wir wollen Putin nicht mit Hitler gleichsetzen: Aber die abenteuerlichen und absurden russischen Begründungen, es gehe darum, durch eine „Spezialoperation“ ein „nazistisches“ System in der Ukraine zu beseitigen, erinnern auf fatale Weise an die verlogenen Scheinrechtfertigungen der Nazis für den Überfall auf Polen. Die Art und Weise, wie die russische Kriegspropaganda derzeit die Erinnerung an den Sieg der Roten Armee über den Faschismus in eine Rechtfertigung für den Krieg gegen die angeblich „neuen Nazis“ in der Ukraine ummünzen will, ist nicht nur verlogen, sondern widerwärtig und ein Schlag ins Gesicht jedes aufrechten Antifaschisten. Das gilt in besonderer Weise für die jüngsten antisemitischen Äußerungen von Außenminister Lawrow. 

 

Selten ist in der Geschichte bewaffneter Konflikte das Verhältnis von Aggressor und Opfer klarer gewesen. Russland ist der Aggressor und die Ukraine das Opfer der Aggression. Das Leid von Millionen von Ukrainern haben Putin und seine Clique zu verantworten, niemand sonst. Niemand in der Ukraine hat Russlands Sicherheit bedroht. Man mag über vieles diskutieren, was in der Außenpolitik der westlichen Länder nach 1990 richtig oder nicht richtig gemacht worden ist. Am Ende aber bleibt es dabei, dass hier ein verbrecherischer Angriffskrieg geführt wird, der durch nichts zu rechtfertigen ist. Selbstverständlich hat der angegriffene Staat das Recht, sich gegen einen solchen Angriff zu wehren. Die Ukraine selbst entscheidet, welche Opfer sie bei dieser Verteidigung hinzunehmen bereit ist. 

 

Wie gut die ukrainische Demokratie funktioniert, darüber mag gestritten werden. Doch freiheitlicher als in Putins Russland von heute geht es dort sicher zu. 

 

Weil man Täter nicht mit Opfern gleichsetzen kann, reichen allgemeine Forderungen wie „Stoppt den Krieg in der Ukraine“ oder „Frieden schaffen ohne Waffen“ in der Situation, in der wir uns heute befinden, nicht aus. Natürlich wollen auch wir den Frieden. Auch wir wollen eine diplomatische Lösung. Auch wir sind keine Freunde militärischer Gewalt. 

 

Aber wer „Stoppt den Krieg“ ruft und „Keine Waffen“ verlangt, muss auch sagen, wie das erreicht werden soll. Eine diplomatische Lösung setzt voraus, dass beide Seiten sie wollen. Putin hat am 24. Februar klargemacht, dass er keine diplomatische Lösung will, sondern den Krieg. Und er hat im Vorfeld all die westlichen Politiker belogen und betrogen, die nach Moskau gefahren sind, um das Schlimmste zu verhindern. Deshalb sind solche Forderungen bestenfalls wohlmeinende Gesinnungsdemonstrationen. Schlimmstenfalls helfen sie indirekt dem Aggressor, wenn daraus der Schluss gezogen wird, dass der Ukraine keine Waffen geliefert werden sollten. Und genau das geschieht ja etwa in den Forderungen der Marburger Ostermarschierer. 

 

Putin darf diesen Krieg nicht gewinnen. Er darf ihn nicht gewinnen, weil die brutale Logik der Gewalt nicht über die Logik des Rechts und den Grundsatz der friedlichen Kooperation triumphieren darf. Er darf ihn nicht gewinnen, weil ansonsten die Bedrohungsängste in anderen osteuropäischen Ländern weiter wachsen und ihre Stabilität weiter leiden würden – mit gewaltigen Konsequenzen auch für uns. In diesem Sinne verteidigt die Ukraine derzeit auch unsere eigene Sicherheit. 

 

Wenn das wichtigste realistische Ziel darin besteht, einen militärischen Sieg Russlands zu verhindern, wird das nur erreichbar sein, wenn wir der Ukraine mit allen unseren Möglichkeiten helfen: humanitär, politisch, finanziell – und mit militärischer Ausrüstung. Gerade wenn verhindert werden soll, dass dieser Krieg zu einer direkten militärischen Konfrontation zwischen Russland und der NATO eskaliert, muss die Ukraine militärisch so stark sein, dass sich der Aggressor gezwungen sieht, einem für die Ukraine erträglichen Verhandlungsfrieden zuzustimmen. 

 

Wir halten die ungeteilte Solidarität mit dem ukrainischen Volk moralisch und politisch für dringend geboten. Das heißt nicht, dass wir allem zustimmen, was die Regierung in Kiew für notwendig hält. Die Ausladung von Bundespräsident Steinmeier halten wir für einen Fehler. Ein Fehler aber besteht auch in manchen feinsinnigen Unterscheidungen zwischen Defensiv- und Offensivwaffen. Wenn wir die Ukraine jetzt im Stich ließen, wäre das nicht nur ein „politisch-moralischer Skandal“ (Jürgen Habermas). Es widerspräche auch deutschen Interessen. Die europäische Führungsmacht Deutschland darf nicht die Rolle des Bremsers bei der internationalen Unterstützung der Ukraine spielen. 

 

 

Eine neue Zeit stellt 
                     neue Fragen 

 

Niemand von uns hat es ernsthaft für möglich gehalten, dass sie oder er in seinem Leben mit einer so nahen Kriegsgefahr konfrontiert werden würde. Die meisten von uns sind in der Ära der Entspannungspolitik politisch sozialisiert worden. Wir waren gewissermaßen Kinder Willy Brandts. Strauß und Dregger waren für viele von uns Kalte Krieger, weil sie gegen die Ostpolitik waren. Und als Michail Gorbatschow von einem Platz für die Sowjetunion in einem gemeinsamen europäischen Haus sprach, sahen wir ganz neue Chancen für eine friedliche Verständigung in Europa. 

 

Das Ende der Sowjetunion haben viele von uns mit gemischten Gefühlen erlebt. Zwar sind die befürchteten Sicherheitsprobleme durch unkontrollierbare Geschäfte mit Atomwaffen ausgeblieben. Doch in den Jelzin-Jahren versank die Hoffnung auf ein leidlich demokratisches Staatswesen in Russland in einer chaotischen Mixtur aus Mehrparteiensystem, Korruption, Oligarchen-Herrschaft und Mafia-Staat. So war der Übergang zu Putin um die Jahrtausendwende mit der Hoffnung verbunden, mit einer stärkeren Staatsmacht könne auch die Stabilisierung einer demokratischen Ordnung verbunden sein, die ein echter Partner für Europa und die westliche Welt werden könne. 

 

Wohl haben wir die nach einigen Jahren sichtbaren Zeichen einer autoritären Entwicklung und die brutale Ausschaltung von Opposition, die auch vor Mord nicht zurückschreckte, durchaus wahrgenommen. Besonders besorgniserregend waren dann die kaum kaschierten Angriffe auf ostukrainische Gebiete und die Annexion der Krim im Frühjahr 2014. Doch auch wir haben lange, zu lange, daran geglaubt, dass es eine stabile Friedensordnung in Europa nur im Wege eines friedlichen Interessenausgleichs mit Russland geben könne. 

 

Heute müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass wir es in Russland mit einem autokratischen System zu tun haben, dessen Führung in neo-zaristischen Großmachtkategorien denkt und dem das Völkerrecht ebenso gleichgültig ist wie die Folgen für die eigene Bevölkerung. Putin ist offenbar davon ausgegangen, dass sich die demokratischen Gesellschaften des Westens längst in einem aus seiner Sicht derart „dekadenten“ Zerfallsprozess befinden, dass mit entschlossener und energischer Gegenwehr gar nicht mehr gerechnet werden müsse. 

 

Auch wir wollen kein neues Wettrüsten. Aber gerade wer eine neue Spannungseskalation abwenden will, kann nur darauf setzen, dass die Ukraine diesen Krieg nicht verliert und die Verhältnisse in Russland sich ändern. 

Wir glauben, dass es einer neuen Selbstverständigung über die tragenden Grundlagen unseres westlich-demokratischen Gesellschaftsmodells bedarf. Wir alle müssen begreifen, dass gelebte Freiheit, Gleichberechtigung der Geschlechter, Rechts- und Sozialstaatlichkeit nicht selbstverständlich sind und dass sie deshalb geschützt werden müssen. Äußerstenfalls auch mit Gewaltmitteln, jedenfalls mit einer glaubwürdigen Abschreckungsdrohung. Die letzten Wochen haben gezeigt, dass es so etwas wie eine westliche Wertegemeinschaft durchaus noch gibt. Europa hat eine politische Geschlossenheit gezeigt wie nie. Die Solidarität mit der Ukraine ist beeindruckend. Die eher pazifistisch eingefärbte Grundstimmung im Lande ist rasch einer mehrheitlichen Befürwortung von Waffenlieferungen gewichen. Und wir haben das Glück, dass die Führungsmacht des Westens nicht mehr von einer irrlichternden Figur wie Donald Trump repräsentiert wird. Nicht auszudenken, wenn das anders wäre. 

 

Das alles sind ermutigende Zeichen. Doch wir haben Zweifel, ob wirklich schon angekommen ist, wie grundlegend die Veränderungen sind, die Putins Krieg ausgelöst hat. 

 

 

 

"Wir haben lange daran geglaubt, dass es eine stabile Friedensordnung in Europa nur im Wege eines friedlichen Interessenausgleichs mit Russland geben könne."

"China wie Russland zeigen, dass die alte These, dass, wenn der Markt kommt, früher oder später die Demokratie folgt, nicht stimmt. Was aber bedeutet das für unsere künftigen Beziehungen?"

Das gilt für eine Stadt wie Marburg in besonderer Weise. Denn hier spielen Annahmen und Denktraditionen noch immer eine große Rolle, die bis in die Zeit des Kalten Krieges zurückreichen. Das gilt für einen „strukturellen Antiamerikanismus“ ebenso wie für den Blick auf NATO und Bundeswehr. Doch die Kriegsverbrechen der Amerikaner in Vietnam liegen ein halbes Jahrhundert zurück. Zwei Jahrzehnte sind seit dem durch das Völkerrecht nicht gedeckten Krieg im Irak vergangen. Wir haben das nicht vergessen. Aber weder der Antikapitalismus der „Marburger Schule“ noch der Nuklearpazifismus der frühen 1980er Jahre eignen sich für den Umgang mit den aktuellen Konflikten. 

Wir wollen andere Akzente setzen. Wir wissen nicht, wie die Welt in einigen Jahren aussehen wird. Wir sind aber sicher, dass vieles neu zu diskutieren und neu zu begreifen sein wird. Es ist auch die Aufgabe der Zivilgesellschaft, sich darum zu kümmern. Deshalb wollen wir Angebote machen und Räume schaffen für alle, die Orientierung suchen. Die politischen Parteien werden das nicht leisten. 

 

Natürlich geht es jetzt vor allem um die Solidarität und politische Unterstützung der Ukraine. Aber es geht noch um viel mehr. Putins Angriffskrieg zeigt, dass unsere Vorstellung falsch war, eine Welt der immer engeren wirtschaftlichen und finanziellen Verflechtungen würde zwischenstaatliche Kriege immer unwahrscheinlicher werden lassen. Autokraten, die auf niemanden Rücksicht nehmen, nicht einmal auf das eigene Volk, lassen sich durch wirtschaftliche Risiken nicht abschrecken. Was aber heißt das für die Zukunft internationaler wirtschaftlicher Beziehungen? Was heißt das für ein Exportland wie Deutschland? 

Das gilt besonders im Blick auf die Weltmacht China. Das Interesse der Machthaber in Peking an guten Geschäften mit dem Westen hindert die Chinesen bislang an offener Parteinahme für Putin. Aber das Lavieren der Führung dort kann die ideologische Nähe der Autokraten in Moskau und Peking kaum überdecken. Das brutale Agieren der chinesischen Null-Covid-Politik gegen das eigene Volk macht in diesen Tagen den totalitären Charakter dieses Regimes ebenso deutlich wie die Unterdrückung der Uiguren. Das Schicksal des Einzelnen zählt in diesem Regime wenig bis gar nichts. Bei allen Unterschieden sind die russische wie die chinesische Führung beide erklärte Gegnerinnen der freiheitlichen Demokratien des Westens. China wie Russland zeigen, dass die alte These, dass, wenn der Markt kommt, früher oder später die Demokratie folgt, nicht stimmt. Was aber bedeutet das für unsere künftigen Beziehungen? Was bedeutet es für die Interessen unserer Exportwirtschaft auf dem riesigen chinesischen Markt?

Nicht zuletzt werfen die neuen globalen Konfliktlinien auch neue ökologische Fragen auf. Wenn die globale Klimakrise nur durch globale Kraftanstrengungen angegangen werden kann, was bedeutet es dann, wenn neue tiefe Spaltungslinien die Welt prägen? Wie verträgt sich globale Klimapolitik mit autoritären und aggressiven Gesellschaftsmodellen? Wie können der Umbau der Energiewirtschaft und der Verzicht auf russisches Erdöl und Erdgas so gestaltet werden, dass eine sichere Energieversorgung in Deutschland und Europa gewährleistet bleibt? 

 

Zu den Fragen, die uns beschäftigen müssen, gehört auch unser Verhältnis zum Militärischen. Auch wir haben über die Jahrzehnte ein distanziertes Verhältnis dazu gehabt. Wenn aber Sicherheit ohne ein glaubwürdiges Abschreckungspotential nicht zu haben ist, muss das Konsequenzen für den Blick auf die Bundeswehr in der Gesellschaft haben. Wer Flugzeuge, die fliegen, und Panzer, die fahren, haben will, darf die Bundeswehr nicht in eine zweifelhafte und anstößige Ecke der Gesellschaft drängen. 

Weil Putins Krieg einen neuen Blick auf die Welt verlangt, weil damit viele Fragen gestellt sind, die weit über den Tag hinausreichen, haben wir die Initiative Zeitenwende Marburg gegründet. Mit dieser Initiative wollen wir Foren der politischen und intellektuellen Auseinandersetzung über diese Fragen schaffen. Wir verstehen uns als eine überparteiliche Initiative, die allen Demokraten offensteht – einerlei, wo parteipolitische Sympathien oder Mitgliedschaften liegen oder ob es überhaupt welche gibt. Wer sich dem Wertekanon der freiheitlichen Demokratie und des Grundgesetzes verbunden fühlt, ist herzlich willkommen und zur Mitarbeit eingeladen. 

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